Wie sehen wir die Welt in Bildern vermittelt? Welche Wahrnehmung von Raum erzeugt die einlinsige Perspektive der Kamera? Alexandra Leykauf analysiert den Blick, der seit der Erfindung der Fotografie auf vielfältige Weise technisch reproduziert werden kann. Dabei schafft sie Bildräume, die zunächst wenig mit Fotografie zu tun zu haben scheinen. Als Ausstellungsbesucher*innen bewegen wir uns entlang eines Parkours von Architekturelementen, die als individuell geformte Displays Reproduktionen von Reproduktionen wiedergeben. Der Wechsel zwischen unterschiedlichen Reproduktionsebenen erzeugt hierbei immer wieder Trompe-l’œil-Effekte zwischen Zwei- und Dreidimensionalem – und lässt uns so das Verhältnis von Blick- (raum), Leinwand/Display und Bild reflektieren.
Neben der Wahl des Motivs und des Bildausschnitts spielt in der Fotografie die Betrachter*innenperspektive eine entscheidende Rolle. Die Wahrnehmung einer Fotografie hängt auch von unserer eigenen Betrachtungsweise ab. Um diese zu untersuchen, setzt Alexandra Leykauf das Motiv der Landschaft auf vielfältige Weise in ihrer Arbeit ein. Landschaft dient hierbei als Schnittstelle zwischen Betrachter*in und Bild. Wie wird der Blick geleitet und wo positioniere ich mich selbst? Bin ich vor dem Bild, im Bild, hinter dem Bild? Welches Weltbild wird in einer Landschaftsmalerei transportiert und wie spiegelt sich dieses in meinem Blick? Alexandra Leykauf nutzt Kunstsammlungen und Bibliotheken, um sich in lokale Kontexte einzuarbeiten, Geschichte und Topografie eines Ausstellungsortes zu studieren.1 Reproduktionen der gefundenen Bilder druckt sie aus, filmt oder fotografiert sie ab – zumeist als Tabletop-Aufnahmen – und kaschiert sie stark vergrößert auf Architekturelemente. So entstehen Bildräume, die wir betreten können – durchlässige Displays.
Die für die Ausstellung Prospect bei Camera Austria produzierten fünf neuen Bildtafelobjekte bringt Leykauf erstmals direkt mit ihren Videoarbeiten zusammen, wodurch Themencluster entstehen, die sich transmedial vermitteln. Immer wieder taucht das Atelier der Künstlerin als eine Form der Selbstverortung auf. Im Kontrast zu Caspar David Friedrichs Wanderer über dem Nebelmeer (um 1817) entwirft die Künstlerin ein Selbst im Bildraum, das sich durch Spuren des Alltags, durch Architektur und Mobiliar herausbildet. Leykauf gebraucht die uns heute zur Verfügung stehenden bildgebenden Verfahren nicht primär, um neue Bilder zu erschaffen, sondern um mittels der fotografischen Reproduktion, des Scannens und Abfilmens von gefundenen Bildern unser Verhältnis, unseren Zugang zu diesen zu untersuchen.
Die von Leykauf in den Sammlungen des Graz Museums, der Neuen Galerie und des Museums für Geschichte ausgewählten Bilder – Joseph Kuwassegs Lithografien Aussicht vom Grazer Schloßberg (1850) und Blick auf Graz von St. Peter (Panorama Graz) (um 1850), Friedrich Gauermanns Gemälde Blick gegen Muggendorf (um 1840) sowie der aus dem 17. Jahrhundert stammende Stich Grätz die Haubt Statt in Steyer (o. J.) und die in Auflage produzierte Druckgrafik Panorama von Graz, aufgenommen vom Schlossberg (1865) tragen den Standpunktoder den Blick bereits im Titel. Mit den unterschiedlichen Perspektiven auf Landschaft verbindet sich in den Bildern eine zeittypische Auffassung von Machtverteilung und Zugang: Der Blick hinauf zum Berg und zur Burg, wie er im Zentrum des touristischen Panorama von Graz steht, ist ein anderer als der freie Blick von ebendiesem Standpunkt aus auf die Stadt und das Umland, wie in Kuwassegs Aussicht vom Grazer Schloßberg. Oder ist der exponierte Schloßberg gar ein gleichberechtigtes Gegenüber, das uns anblickt, wie es die anthropomorphe Landschaft des frühneuzeitlichen Stichs Grätz die Haubt Statt in Steyer suggeriert?
In der überdimensionalen Reproduktion einer Fotografie, die Alexandra Leykauf von der Aufsicht dieses Stichs auf einem Glastisch in ihrem Atelier gemacht hat, sehen wir einen Schwarz-Weiß-Ausdruck der Arbeit, den die Künstlerin eingeschnitten und den Berg wie eine Pop-up-Karte aufgefaltet hat. Dadurch wird der Aspekt des Beweglichen, Animistischen, die Analogie des Bergmotivs mit einer beseelten Gestalt noch verdeutlicht.
Anthropomorphes begegnet uns auch in einer Serie gerahmter Porträts (2019–2021). Auf den ersten Blick wirken diese wie naive Malereien, um sich bei näherer Betrachtung als schwarz überzeichnete Reproduktionen unterschiedlicher Landschaftsgemälde aus dem 19. Jahrhundert zu entpuppen. Leykauf bestrich aus Kunstkatalogen entnommene Buchseiten mit Fotoemulsion und bedeckte jene Stellen der Reproduktion, in denen sie ein Gesicht zu erkennen glaubte, mit Sand, bevor sie die Blätter in der Dunkelkammer belichtete. Die Landschaftsporträts sind mit den Vornamen und abgekürzten Nachnamen der Maler betitelt – eine bewusste Distanzlosigkeit, die die Autorität des Künstlers in Frage stellt und ihn in einer Subjekt-Objekt-Umkehrung auf eine Ebene mit der Landschaft stellt. In Form des Porträts erwidert die Landschaft unseren Blick. Dies ist auch als kritische Auseinandersetzung mit der Inbesitznahme von Raum zu verstehen, die sich in den Bildern der überwiegend männlichen Landschaftsmaler transportiert. Leykauf beschreibt ihre Beschäftigung mit den Werken vor diesem Hintergrund als Bewegung zwischen Analyse und Verliebt-Sein – gleichermaßen eine feministische Kritik und eine tiefe Wertschätzung der Kunstwerke.
Dem gegenüber steht die überdimensionale Reproduktion des Gemäldes Blick gegen Muggendorf. Als einer der ersten Landschaftsmaler Österreichs machte Friedrich Gauermann die malerische Erschließung des Raums als schrittweise koloristische Aneignung von Landschaftsabschnitten sichtbar. Das Prozesshafte des Malverfahrens ist durch Auslassungen in der linken unteren Bildhälfte betont. Die Bildtafel wird von einem Flatscreen überlagert, auf dem Leykaufs Videoarbeit Cliché Verre (2017) zu sehen ist. In dieser blicken wir auf eine schwarz beschichtete Glasscheibe, die von der Rückseite nach und nach von ihrer Farbschicht befreit wird, wodurch zwei Bildräume gleichzeitig sichtbar werden: die Fingerzeichnung einer Landschaft und zugleich ein filmisches Selbstporträt der Künstlerin in ihrem Atelier. Leykauf steht als Akteurin hinter der Bildoberfläche, also innerhalb des Bildes. Sie setzt ihren Fingerstreich wie einen Pinselstrich ein, zieht zunächst eine Horizontlinie und lässt dann durch das schrittweise Entfernen von Farbe abschnittsweise eine (abstrakte) Landschaft entstehen. Diese lässt schließlich mit jedem Wisch mehr Details des Atelierhintergrunds durchscheinen – eine Verortung der Malerei, zugleich eine Materialisierung der Bildoberfläche, die durch das Geräusch des Wischens und Kratzens unterstrichen wird. Cliché verre (Glasklischeedruck) ist der Begriff für ein fotografisches Reproduktionsverfahren, das im 19. Jahrhundert hauptsächlich von Landschaftsmalern verwendet wurde. Eine Glasscheibe wurde mit Ruß geschwärzt, anschließend wurde der Ruß stellenweise abgekratzt, die Glasplatte auf Fotopapier gelegt und belichtet. Leykauf zieht hier also eine bewusste Analogie zum Negativ-Positiv-Verfahren der Fotografie.
Die neueren Videoarbeiten Schnecken (2021) und Spatzen (2023) weisen formale Parallelen zu Cliché Verre auf. Sie zeigen im Zeitraffer abgespielte Aufnahmen von Tieren, deren Bewegungen von der Suche nach Nahrung animiert wurden. Die Kamera ist in beiden Fällen wie bei einem Scanner unter der Bildebene positioniert und verweist einerseits auf dieses hochtechnisierte bildgebende Verfahren, andererseits auf grundlegende, archaische Bildwerdungsprozesse, die durch Spuren, Sekrete, Witterung, also körperliche Einwirkung, ausgelöst werden. Dieser Aspekt findet sich auch in der Videoarbeit Geographics of the Table (2019) wieder, die auf einer festgelegten Bildebene, die sich aus der Aufsicht auf einen Glastisch ergibt, im Stop-Motion-Verfahren sich verändernde Alltags-Stillleben entstehen lässt.
Am Ende der Fensterfront im Hauptraum stehen wir vor einer großen Bildtafel mit einer Öffnung, durch die eine Videoprojektion zu sehen ist. Das Bild auf der Tafel ist eine fotografische Reproduktion der Lithografie Aussicht vom Grazer Schloßberg von Joseph Kuwasseg. In dem Mitte des 19. Jahrhunderts als Teil einer achtteiligen Mappe erschienenen Werk wird der freie Blick vom Schloßberg als panoramaartige Fernsicht inszeniert, die sich durch topografische Genauigkeit auszeichnet. Die Eisengusselemente des verzierten Tores kündigen bereits die Moderne an; hier findet sich eine Verbindung zum ebenfalls Mitte des 19. Jahrhunderts errichteten Eisernen Haus, seit 2003 Standort von Camera Austria. In Leykaufs Fotografie sind über den Rand der reproduzierten Lithografie hinaus Details ihres Ateliers erkennbar. Indem die Künstlerin diese Details gewissermaßen als zweiten Schmuckrahmen abbildet, verkehrt sie Innen- und Außenraum – und damit auch die Ebene der Repräsentation. Während typische Porträts des Biedermeier das Grazer Bürgertum in prunkvollen Interieurs mit Fensterblick auf den Schloßberg zeigen, dreht Leykauf die Blickrichtung um und stellt den freien, erhabenen Blick vom Berg ins Zentrum, der in die eigenen vier Wände geholt und zugleich durchlässig gemacht wird.
Durch die Auslassung in der Bildtafel ist die Videoarbeit aerial (2018) bereits von weitem zu sehen – eine Auseinandersetzung mit der vermeintlichen Objektivität von Satellitenbildern und jenen vertikalen Sichtdispositiven, die uns Landschaft durch die Rahmen unserer Bildschirme ziehen und die Erdoberfläche heran- oder herauszoomen lassen. Ausgehend von zufällig gefundenen Luftaufnahmen von Feldern und Wiesen in Büchern, die in einem englischen Regionalarchiv gesammelt sind, fielen der Künstlerin in den Reproduktionen der Aufnahmen sichtbare Wuchsveränderungen oder »crop marks« ins Auge – ein Zeichen für im Boden verborgene Mauern oder Gräben, die das Wachstum der Pflanzen beeinflussen. Die nur aus der Luft sichtbaren Strukturen resultieren aus den Überresten früherer Kulturen. Leykauf scannte die entsprechenden Seiten mit einem Taschenscanner im Gegenlicht einer Fensterscheibe, wodurch Abbildungen und Texte auf der Rückseite durchscheinen. Die Scans verband sie anschließend zu einer imaginären Landschaft, die sie in einer Mischung aus virtuellem Flug und digitaler Kartennavigation animierte. Dazu unterlegte sie Field Recordings, die sie an einigen der in den Fotografien sichtbaren Orte aufgezeichnet hatte. Anhand dieses einfachen und vom analogen Material ausgehenden Verfahrens macht die Videoarbeit deutlich, dass sich (Kultur-)Geschichte nicht in erster Linie durch eine lineare Wiedergabe von Koordinaten vermittelt, sondern erst durch das Übertragen, Zusammensetzen und Überlagern von Wissensschichten nachvollziehbar wird.
Rechts von aerial ist die vergrößerte Reproduktion des zweiten Motivs von Joseph Kuwasseg, Blick auf Graz von St. Peter (Panorama Graz), auf einer Paravent-artig aufgestellten Bildtafel zu sehen. Wie bei den anderen aufkaschierten Bildmotiven handelt es sich um ein Foto von der Reproduktion der Lithografie, die auf einer Tischplatte platziert ist. Auf Höhe der Horizontlinie ist das Blatt nach oben gewölbt, was die Fluchtlinie und die Hineinführung des Blicks in die Landschaft betont. Gleichzeitig entsteht eine Hohlkehle, wie wir sie aus dem Fotostudio kennen. Auf dem Tisch ist außerdem ein Stromkabel zu sehen sowie ein Schwarz-Weiß-Pixelraster, ähnlich der Hintergrundebene in der Bildbearbeitungssoftware Photoshop.
Die Lithografie des Grazer Felds spielt mit einer starken Farbperspektive und Hell-Dunkel-Kontrasten, um eine landschaftliche Totalität zu erzeugen, in die das Auge hineingeführt wird. Diese Bewegung wird durch die konkave Form des Displays betont, hinter dem zwei ältere Videoarbeiten positioniert sind: Thuner See (2017) und Sunset Harbor at Rio (2016). Ähnlich wie bei aerial sind in beiden Videos Reproduktionen von Landschaften Ausgangspunkt für einerseits eine Untersuchung der Materialität und Körperlichkeit des Druckmediums, andererseits berühren beide Filme das Kernthema der Landschaftsdarstellung: die Orientierung an der Horizontlinie. Egal wie sehr ein Bild dekonstruiert und verzerrt wird – solange eine zentrale horizontale Linie erkennbar ist, bleibt die Unendlichkeitsillusion des Bildraums für unseren von der Zentralperspektive geschulten Blick bestehen.
In Bezug dazu steht das Bildpaneel mit der Aufnahme der Reproduktion der auf einer Zeichnung von Carl Reichert basierenden Druckgrafik Panorama von Graz, die ebenfalls auf einem Tisch platziert aufgenommen wurde. In der Mitte ist sie vertikal geknickt und mit zwei kreisrunden Löchern versehen, die wie Augenhöhlen anmuten und der Darstellung etwas Wesenhaftes geben. Im Hintergrund sind Details aus Leykaufs Atelier zu sehen, ein Fenster, eine Bibliothek, ein Spiegel und ein zusammengefalteter Teppich. In der reproduzierten Druckgrafik bildet der Schloßberg gewissermaßen den Mittelpunkt eines touristischen Kosmos. Um die als Erdkugel dargestellte Stadt Graz sind in einem Ring topografische Details und Sehenswürdigkeiten aufgelistet. Die Zeichnung versinnbildlicht die Verfügbarmachung des Raums durch den entkörperten Panoramablick. Auf den Widerspruch zum verkörperten Sehen verweist Leykauf zum einen durch die zwei Gucklöcher, die sie in die Reproduktion geschnitten hat, zum anderen durch die Gegenüberstellung mit ihrer Videoarbeit recto/verso 360° (2017). In dieser setzt die Künstlerin eine 360-Grad-Kamera ein, um Landschaftsmalereien aus einer Kunstsammlung in Südengland jeweils von deren Vorder- und Rückseite aufzunehmen. Es handelt sich um Gemälde, deren Leinwände von beiden Seiten bemalt sind. In der Aufnahmesituation nimmt die Künstlerin die Position des Bildträgers (im doppelten Sinne des Wortes) ein. Gleich einem Display befindet sie sich zwischen Kamera und Bild, wodurch eine doppelte Betrachter*innenposition entsteht, wie wir sie von Überwachungskameras kennen. Die Nebeneinanderstellung beider Kamera-Blickachsen, die jeweils eine Halbkugel umfassen, scheint eine allumfassende Ansicht zu ermöglichen. Als Betrachter*in haben wir jedoch Mühe, die Bilder zu lesen, da wir den entkoppelten Blick der zwei Kamerabilder nicht nachvollziehen können. In ihrer Videoarbeit recto/verso 360° führt Leykauf die Vorstellung einer verbildlichten Dreidimensionalität auf Grundlage von Aufnahmen wie sie 360-Grad- oder VR-Kameras übermitteln ad absurdum. Jedwede Kameraaufnahme muss auf einem Träger dargestellt werden und ist deshalb zwangsläufig zweidimensional, egal welche Form dieses Display annimmt. Auch aufgrund ihrer Einäugigkeit können Kameras keine dreidimensionalen Bilder liefern. Displays lassen uns Bilder analytisch betrachten. Dreidimensionalität entsteht in unseren Köpfen und Körpern. Auch dies macht Alexandra Leykaufs Arbeit deutlich.
¹Ich danke Ulrich Becker für die aufschlussreichen kunsthistorischen Erläuterungen sowie Annette Rainer, deren Aufsatz »Der Schloßberg im Spiegel der bildenden Kunst 1809 bis 2020«, erschienen in Der Grazer Schloßberg. Historisches Jahrbuch der Stadt Graz, Bd. 49/50, Graz: Stadtmuseum Graz 2020 (S. 211–270), mir eine große Hilfe war. / My thanks go to Ulrich Becker for his insightful comments related to art history and also to Annette Rainer, whose essay “Der Schloßberg im Spiegel der bildenden Kunst 1809 bis 2020,” published in the volume Der Grazer Schloßberg: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz, vol. 49–50 (Graz: Stadtmuseum Graz, 2020), pp. 211–70, was a great help to me.
Alexandra Leykauf (geb. 1976) studierte an der Akademie der Bildenden Künste Nürnberg (DE) und an der Gerrit Rietveld Academie in Amsterdam (NL). Sie lebt und arbeitet in Berlin (DE).